Sonntag, 12. Februar 2023

Der große Bruch

Celluloid broken, metaphor for Craig Bond era
Die Filme mit Daniel Craig als Bond brachen mit mehr franchise-eigenen Traditionen als jede andere Darsteller-Ära davor. Darunter zahlreiche eherne Prinzipien, nach denen Albert R. Broccoli das Franchise ursprünglich einmal 40 Jahre lang erfolgreich am Laufen gehalten hatten. Ich habe versucht, hier mal alle diese Traditionsbrüche aufzulisten. Insgesamt bin ich auf sage und schreibe 27 Punkte gekommen, wobei ich natürlich nicht automatisch alle davon negativ sehe. Geordnet habe ich sie absteigend nach Gewichtung, also eher subjektiv. Bei manchen Punkten kann man sicher streiten, andere Dinge habe ich vielleicht übersehen.

Interessant ist dabei, dass sich viele Brüche bereits mit dem letzten Brosnanfilm DIE ANOTHER DAY (Stirb an einem anderen Tag, 2002), der von vielen Fans als misslungener Irrweg empfunden wird, abzeichneten. 




1) James Bond findet immer einen Ausweg, auch aus vermeintlich hoffnungslosen und scheinbar tödlichen Situationen, und überlebt den Kampf mit seinen Widersachern.

Über diesen Aspekt wurde schon viel geschrieben. Ich hatte mich an dieser Stelle sehr ausführlich dazu geäußert. Im Gegensatz zu vielen anderen Aspekten ist dieser Punkt irreversibel und nie wieder rückgängig zu machen. 

2) Das Gute, das von Bond verkörpert wird, triumphiert letztlich gegen das Böse. James Bond schafft es am Ende, die Pläne von bösen Menschen zu durchkreuzen.

Dieses Prinzip, dem ein Großteil aller Action- und Abenteuerfilme zugrunde liegt, wurde eigentlich erstmalig mit SKYFALL (2012) aufgegeben. Bonds vermeintlicher Fluchtplan erweist sich als Todesfalle für M; und Gegenspieler Silva gewinnt gegen Bond mit seinem Plan, M zu töten. Silva verliert dabei zwar selbst sein Leben, aber auch das war ja von ihm eigentlich mit einberechnet. Eigentlich bemerkenswert, wie der Film mit dieser Idee "Hey, der Schurke gewinnt diesmal am Ende" so erfolgreich und triumphal bewertet werden konnte.

In "Keine Zeit zu sterben" gewinnen gleich zwei Widersacher gegen Bond: Sein Stiefbruder Franz mit seinem Plan, Bonds privates Glück nachhaltig zu zerstören, (das muss man sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen: Nach 60 Jahren Bond und ewiger Dauerfehde GEWINNT Erzfeind Blofeld am Ende) und Safin, indem er Bond nicht nur besiegt, sondern ihn sogar dazu zwingt, sich selbst von seinen eigenen Leuten töten zu lassen. Was für ein würdiger Abschluss.

3) Die Figur James Bond ist der Star, nicht der Darsteller, der ihn verkörpert. 

Die 'Emanzipation' der Figur Bond vom Superstar Sean Connery, die Albert R. Broccoli und Harry Saltzman über Jahre hinweg in mühevoller Arbeit gelang, wurde von Nachfolgerin Barbara Broccoli wieder umgekehrt, indem man Craig einen größeren Einfluß einräumte als jedem Darsteller zuvor, mit der Produktion sogar auf ihn wartete und die Figur letztlich seinen Wünschen unterordnete. Beim letzten Film ging es wesentlich mehr darum, Craig einen "würdigen Abgang" zu verschaffen, als einfach nur einen guten Bondfilm zu präsentieren.

4) Bond ist ein groß gewachsener, dunkelhaariger und überdurchschnittlich attraktiver Mann.

Da kann man sich sicher streiten, da bereits Roger Moores Haar etwas heller war als das von Connery, Lazenby, Dalton und Brosnan. Trotzdem war er nicht blond. Albert R. 'Cubby' Broccoli's Maxime für einen neuen Darsteller war außerdem, dass er über 1,80 Meter sein sollte. Ich denke, man kann relativ sicher sagen, dass Daniel Craig nicht in das Schema passt, nach dem 'Cubby' Darsteller aussuchte, und er von ihm selbst nicht ausgewählt worden wäre. Was sich ja auch in der Irritation fast aller Fans nach der offiziellen Bestätigung von Craig Ende 2005 widerspiegelte. (Es soll an dieser Stelle auch weniger um die Bewertung von Craigs Äußerem gehen als um den optisch-stilistischen Bruch, den er zweifellos darstellte.)

5) James Bond ist ein etablierter Geheim-Agent und Profi, dessen Anfänge oder Kindheit - wenn überhaupt - nur vage angedeutet werden.

Dass das ein heimliches Grundprinzip von Albert R. Broccoli war, zeigt sich an der Entstehungsgeschichte von THE LIVING DAYLIGHTS (Der Hauch des Todes, 1987). Richard Maibaum und Michael G. Wilson spielten hier -  nachdem die Alterslinie von Bond nach Roger Moore eh den ersten großen Bruch erzwang - mit dem Gedanken einer Origin-Geschichte von Bond, einem Prequel also, das noch vor DR. NO spielt. Cubby erteilte dem eine sehr deutliche Absage und sagte, dass Bond ein etablierter Profi-Agent sein muss.

Man kann also auch hier ziemlich sicher sagen, dass CASINO ROYALE von ihm als Hauptproduzenten so nicht realisiert worden wäre. Vermutlich war ihm bereits bewusst, dass das Verlassen einer gewissen 'Zeitlosigkeit' der Filme in letzter Konsequent auch den Tod des Charakters bedeutet. GOLDENEYE stellte da wohl schon eine kleine Revolution dar, indem er den Tod von Bonds Eltern thematisierte.

Aus Punkt 5 ergeben sich einige weitere Punkte in Bezug auf die Person James Bond:

6) Bond ist stilsicher in Bezug auf Kleidung, Drinks, Speisen, etc.

Um Bond am Anfang seiner Doppelnull-Laufbahn zu zeigen, brauchte man natürlich auch einen wirkungsvollen Vorher-Nachher-Kontrast. In CASINO ROYALE wird von Vesper angedeutet, dass Bond aus eher einfachen Verhältnissen kommt und zum Beispiel Anzüge eher "mit Verachtung" trägt, was in deutlichem Widerspruch zu den Romanen steht. Dort entstammt er einer recht gut situierten Familie und besuchte diverse englische Eliteschulen. Man kann daher davon ausgehen, dass der in den Büchern beschriebene James Bond schon von Jugend an ein Dinner Jacket von einem 'Dinner Jacket' unterscheiden konnte und keine Nachhilfe-Mutti dafür brauchte. 

Genau das zeigte sich auch in den Filmen bis einschließlich DIE ANOTHER DAY. Dass Bond sich erst an das Tragen von Smokings gewöhnen muss, spiegelt eher die Bondwerdung von Sean Connery wider - welche vor allem dem Regisseur Terence Young zu verdanken ist - als den echten Bond aus den Romanen und Filmen. 

Die Kleidung, die Craig beispielsweise auf Madagaskar trägt, entspricht nicht wirklich dem Bond der vorherigen Filme. Über seine berühmte Reaktion auf die Frage des Barkeepers zu seinem Martini - "Sehe ich so aus, als ob mich das interessiert?" - kann man sich streiten. Grundsätzlich entspricht es aber ebenfalls nicht dem zuvor etablierten Bond.

7) Bond lässt sich nicht gehen und betrinkt sich nicht jenseits eines professionell vertretbaren Rahmens.

Auch der Bond der Romane betrank sich, wie zum Beispiel in Moonraker. Dort allerdings nur zur Tarnung ohne Maß, denn er konnte Sir Hugo Drax auch in diesem Zustand noch beim Kartenspiel übertrumpfen. Natürlich torkelt und lallt Craigs Bond nicht, aber seine Eskapaden an der Flugzeugbar in QUANTUM OF SOLACE oder an der Strandbar in SKYFALL sehen schon wie ein gezieltes Betrinken aus. Etwas, das in Filmen davor nicht vorkam. Man kann die Szene in TOMORROW NEVER DIES als Gegenbeispiel einwenden, in der Bond in seinem Hotelzimmer Wodka trinkt, allerdings wartete er hier auf einen möglichen Schläger oder gar Killer und war sicher noch in der Lage, professionell mit diesem umzugehen. 

Auch das Vernachlässigen der Rasur zählt zu diesem Sich-gehen-lassen. Man kann das alles gelassen sehen oder sogar interessant finden, allerdings machten Professionalität und Stilsicherheit einmal einen großen Teil der Attraktivität von Bond aus. So oder so ist auch das ein Bruch zu früheren Filmen.

8) Bond behandelt M und andere Vorgesetzte nicht grob respektlos.

Hier werden viele einwenden, dass Bond sich ja nie wirklich immer und ausnahmslos an Ms Anweisungen gehalten habe. In LICENCE TO KILL widersetzt er sich sogar sehr direkt M. Und in GOLDENEYE sagt er der neuen M (Judi Dench) auch mal ziemlich unverblümt seine Meinung. Das geschah aber alles in einem gewissen, respektvollen Rahmen.

Das mehrmalige (!) Einbrechen in die Wohnung von M ist dagegen eine ganz andere Hausnummer; etwas, wo ich mir sehr sicher bin, dass das dem von Fleming beschriebenen Bond nur in absoluten Notfällen in den Sinn gekommen wäre. Wenn überhaupt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der echte Bond M nicht nur respektierte, sondern in gewisser Weise sogar liebte. Dass das für neue Chefs nicht sofort gelten kann, ist klar. Dass Bond M aber wie irgendeinen minderbemittelten Müllfahrer behandelt - wie in "Keine Zeit zu sterben" - ist definitiv 'out of character'.

9) Bond behandelt Freunde und Geliebte nicht grob respektlos.

Hier beziehe ich mich zum einen auf QUANTUM OF SOLACE, wo Bond seinen Freund René Mathis, nachdem er ihn quasi als lebenden Schutzschild benutzt hat, in einen Müllcontainer legt. Was bei seiner Begleitung Befremden auslöst. Sicherlich will Bond damit einen Raubüberfall mit Polizei-Konfrontation vortäuschen, allerdings wäre das sicher auch möglich gewesen, ohne die Leiche im Müll zu platzieren. Beziehungsweise hätte man nach Mathis' Tod auch wegschneiden können. Aber scheinbar war es wichtig, Bonds Respektlosigkeit gegenüber toten Freunden zu zeigen.

Aber auch, dass Bond Madeleine in "Keine Zeit zu sterben" aufgrund vager Verdächtigungen einfach ohne Erklärungen in den nächstbesten Zug setzt, ist grob respektlos und völlig 'out of charakter'. Wie der richtige James Bond in solchen Situationen reagieren würde, wurde bereits 1969 in ON HER MAJESTY'S SECRET SERVICE deutlich, als er zu Tracy sagt: "Ich habe gelernt, dass Irrtümer aufgeklärt werden müssen, vor allem unter Freunden. Und Liebenden." Eigentlich unglaublich, dass sich die Craig-Filme fast obsessiv um Bonds emotionale Weiterentwicklung und Reifung drehen, und dem Zuschauer nach vier Filmen dann so eine völlig unglaubwürdige Schote präsentieren.

10) Bond handelt nicht unpatriotisch.

Man kann Patriotismus für etwas völlig aus der Zeit gefallenes halten (wobei der Zeitgeist es gewissen, gerade angegriffenen Ländern dann wieder zu 100% zugesteht). Nichtsdestotrotz muss man sagen, dass der originale James Bond ein sehr patriotischer Charakter war. Ein großer Teil seines Frustes und seiner Wut am Ende des Romans Casino Royale besteht zum Beispiel nicht aus enttäuschter Liebe und Wut über persönlichen Verrat, sondern aus der Vorstellung, dass Großbritannien feindlich eingestellten Ländern vielleicht durch Vespers Verrat entscheidende Geheimnisse enthüllt wurden. Etwas, das in der 2006er Verfilmung überhaupt keine Rolle spielt.

Der originale Bond war aus Überzeugung im Dienst für Großbritannien tätig, und das allerletzte, was ihm in den Sinn gekommen wäre, ist für einen fremden Geheimdienst in einer Sache gegen die eigenen Leute zu operieren, wie es Craig in "Keine Zeit zu sterben" auf Kuba tut. Natürlich könnte man hier einwenden, dass auch schon Timothy Dalton zum Teil eigenmächtig gegen MI6-Interessen handelte. Aber das tat er zum einen auf eigene Rechnung und zum anderen, weil er von diversen Geheimdiensttätigkeiten gegen Sanchez auch erst später erfährt. 

11) M hat Vertrauen in seinen/ihren besten Agenten oder handelt nicht moralisch sehr verwerflich.

Sicherlich das Gegenstück zu Nr. 8 und 10. Wie bereits erwähnt, Bond und M hatten schon immer ein Verhältnis, das dem von Cops und Polizeichefs in Cop-Filmen entspricht. Bond geht oft sehr eigene Wege, und M missbilligt das und maßregelt ihn ein bisschen. Allerdings hat (oder zumindest hatte) Bond damit am Ende immer Erfolg, und M weiß das auch. Selbst die neue "Zahlenhexe" in GOLDENEYE weiß das genau. 

Und natürlich handelte M auch früher schon teils fragwürdig, wie etwa in der Affäre um Elektra King in THE WORLD IS NOT ENOUGH. Aber dieses grundsätzliche Misstrauen in seine Fähigkeiten, dieses ständige Genörgel, Kartensperren, etc., das schließlich sogar seinen Tod in Kauf nimmt, wie in SKYFALL, das ist für M eigentlich 'out of character'. Völlig auf die Spitze getrieben wird das dann in "Keine Zeit zu sterben", wo M eine äußerst gefährliche Biowaffe in Auftrag gibt, diese nicht ausreichend sichern kann und damit letztlich sogar Bonds tatsächliches Ableben mitverschuldet. Während Dench's M Bond fast erschießen lässt, ermöglicht Fiennes' M Bonds Vergiftung. Bei Craig hat man mehr denn je den Eindruck, dass Bonds wirkliche Feinde seine vermeintlichen Freunde sind - etwas, das ironischerweise auch der Situation hinter den Kulissen entspricht.

Streiten kann man sich natürlich über DIE ANOTHER DAY, wo M Bond in Bezug auf einen möglichen Geheimnisverrat nicht zu vertrauen scheint. Einer von mehreren, noch kommenden Punkten, bei denen der finale Brosnanbond vieles vorausnimmt. Allerdings scheint dieses Vertrauen kurz darauf im Film auch schon wiederhergestellt, und M stellt Bond wieder in Dienst. 

12) Familiäre Verwicklungen von Bond werden nicht handlungsrelevant thematisiert und Familienangehörige nicht erwähnt oder in die Handlung eingebunden. 

Das höchste der Gefühle war hier wie bereits erwähnt eine kurze Anspielung über Bonds Eltern in GOLDENEYE, oder etwa die Erwähnung des Familienmottos Die Welt ist nicht genug. Die war völlig okay, zumal das auch von Fleming alles beschrieben wird. Von mir aus könnte man aus der Geschichte um die Eltern auch noch etwas mehr machen, wie es beispielsweise Jeffery Deaver in Carte Blanche tut. Immerhin sind die ja tot und können nicht mehr nerven.

Ansonsten bestand die Faszination von Bond aber immer aus dem Archetypus des geheimnisvollen Fremden, der die Schurken beseitigt und dann wieder gen Sonnenuntergang davon reitet. Seine Tanten und Onkel, eventuelle Geschwister, Neffen, Cousins, etc. pp., waren einfach uninteressant.

Der Besuch des Elternhauses in SKYFALL war bereits grenzwertig, aber für mich zum damaligen Zeitpunkt okay. Auch wenn die dramaturgische Funktion der Aktion über theatralische Seelenschau hinaus eher fragwürdig ist. Die bis dato dümmste Idee in einer Geschichte vieler dummer Ideen war dann allerdings das Präsentieren eines Stiefbruders aus Bonds Kindheit, inklusive eines unglaublich ausgelutschten Bruderzwistes. 

Über Nachkommen von Bond kann man sich streiten. Grundsätzlich nicht unbedingt tabu, denn schon Fleming entließ den Leser mit dem Wissen eines Sohnes von Bond, der allerdings dessen Leben nicht tangierte. In der großen Familienzusammenführung der Craig-Filme war es wohl die unausweichliche Konsequenz. Das 'out of charakter'-Element besteht für mich hier vor allem in der Unterstellung, dass Bond ein verkappter Familienmensch sei, der eigentlich schon immer vom Vorstadthäuschen mit Frauchen, Kids und Hund geräumt hat. Die ultimative Vergewaltigung des Charakters.

13) Ernst Stavro Blofeld ist polnisch-griechischer Abstammung und trifft auf Bond erst im Zuge seiner Spectre-Aktivitäten.

Eigentlich ein Unterpunkt von 12, da der echte Blofeld aber immerhin Bonds alte Nemesis im Stile von Joker oder Lex Luthor war und ein bedeutender Bestandteil der Romane und Filme war, ist es ein eigenständig zu nennender Aspekt, denke ich. Eigentlich ist Franz Oberhauser in SPECTRE ja noch nicht mal wirklich Ernst Stavro Blofeld, sondern nennt sich selbst nur so (was von Bond auch brav befolgt wird). Trotzdem hat man sich mit dieser Neu-Interpretation soweit von Fleming entfernt wie in keiner Ära zuvor. Die Behauptung, die Craigfilme seien näher an den Romanen als alle Filme davor, wirkt nicht zuletzt durch diesen Aspekt einfach nur befremdlich.

14) Bond erleidet keine sehr ernsthaften und lebensgefährlichen Verletzungen, die langwierig behandelt werden müssen, seinen Beruf ernsthaft beeinträchtigen oder ihn sogar töten.

Vor Craig gab es hier einen Schuss ins Bein in THUNDERBALL, einen mehr oder weniger gut motivierten Sanatoriums-Aufenthalt im selben Film, einen Sturz mit ausgerenkter Schulter in THE WORLD IS NOT ENOUGH, der Bond zeitweise leicht einschränkt, und natürliche die monatelange Folter in DIE ANOTHER DAY

Wieder ein Punkt, wo der vierte Brosnan-Einsatz thematisch die folgenden Filme vorbereitete. Allerdings war die Behandlung mit Gift und Gegengift, Waterboarding, etc - so zynisch es klingt - nicht dauerhaft körperlich schädigend. Und auch seelisch kann sich Bond dank Jinx zügig rehabilieren. 

Streiten kann man sich über das Konkurrenz-Werk NEVER SAY NEVER AGAIN von 1983, der einen alternden Bond kurz vor dem Ruhestand 40 Jahre vor "Keine Zeit zu sterben" vorwegnahm. Allerdings ist dessen Fitness und Professionalität hier immer noch ungleich größer. Vermutlich hätte Connerys Bond sogar die Mission gegen Safin überlebt.

In CASINO ROYALE erleidet Bond dagegen einen Herzstillstand durch Gift - nicht wie in DIE ANOTHER DAY durch Körperbeherrschung - und wird so schwer gefoltert, dass er ins Koma fällt und mehrere Wochen oder Monate im Krankenhaus behandelt werden muss. In SKYFALL ist er nach Beschuss und Absturz ebenfalls nachhaltig und ernsthaft gesundheitlich beeinträchtigt. Und im letzten Film verletzt ihn ein Gegner schließlich sogar tödlich.

Grundsätzlich ist das ein Punkt, den ich nicht unbedingt frevelhaft finde, wenn es nicht übertrieben wird. Zumal Bond bei Fleming mit trauriger Regelmäßigkeit schwer gefoltert wird und seine Abenteuer mit großflächigen Verbänden beendet. Bis auf den Tod natürlich, den selbst Fleming höchstpersönlich seiner Schöpfung nicht zumutete.


Zu diesen Aspekten Bonds Person betreffend kommen noch einige formale Traditionen:

15) Die Filme erscheinen mit nur wenigen Ausnahmefällen in einem Zwei-Jahres-Rhythmus.

Die große Ausnahme war hier nur die sechsjährige Pause zwischen LICENCE TO KILL und GOLDENEYE. Die war allerdings durch äußere Umstände aufgezwungen. Mit den Brosnan-Filmen folgte man wieder dem Zwei-Jahres-Muster. Mit der Ausnahme eines Extra-Jahres für DIE ANOTHER DAY, der hier wieder eine Vorreiterrolle einnimmt. 

Bei Craig waren die zwei Jahre Wartezeit dann eher die Ausnahme, und geschah nur ein einziges Mal nach seinem ersten Film. Davor und danach uferten die Pausen aus. Zum Teil ebenfalls unverschuldet, zum Teil aber auch mit voller Absicht. Nach SKYFALL wartete man etwa auf Craig und Mendes, bis diese andere Projekte abgeschlossen hatten. Und nach dem letzten Film setzt man gleich erstmal mindestens vier Jahre an.

16) Die Filme beginnen mit der ikonischen Gunbarrel-Sequenz.

Der sicher augenfälligste formale Traditionsbruch. Was bei CASINO ROYALE noch kreativ und frisch war, entwickelte bald die ermüdende Regelmäßigkeit einer ungeliebten Jahreszeit. Craig nahm für jeden Film eine andere Gunbarrel auf, keine davon war eigentlich so richtig gut. Bei "Keine Zeit zu sterben" fehlte das Blut, fast als ob man eine Allergie gegen diese traditionelle Sequenz hat.

Und auch hier kann man sagen, dass DIE ANOTHER DAY erstmalig die Gunbarrel-Sequenz grundlegend veränderte oder erweiterte, indem man ein auf den Zuschauer zu fliegendes Projektil einfügte - und die Fans auf größere Variationen der Sequenz vorbereitete?

Sicherlich ist auch das kein unverzeihliche Sakrileg, allerdings fragt man sich als Fan schon ein bisschen, warum man zum Beispiel nie auf die Idee kommen würde, Star-Wars-Fans solche Spielereien zuzumuten, und beispielsweise die Texttafeln ans Ende stellt. Sind das Fans erster Klasse, die mehr Respekt verdienen?

17) James Bond ist trotz wandelnder Darsteller und Stimmungen dieselbe Person mit denselben Erfahrungen.

Das galt bis einschließlich DIE ANOTHER DAY. Wobei das natürlich streng genommen einige Kontinuitätsprobleme verursacht hat, die man am ehesten lösen kann, wenn man annimmt, dass mit jedem neuen Darsteller eine Art RetCon stattfindet. Dieses augenzwinkernde Beibehalten einer Persönlichkeit über verschiedene Darsteller und Jahrzehnte hinweg war allerdings etwas, was die Bondreihe einmalig gemacht hat. Jetzt ist man wahrscheinlich ähnlich wie bei Spider-Man in ein Muster ständiger Reboots gezwungen.

18) Die Filme stehen für sich und können vollständig ohne das Wissen vorheriger Filme verstanden und genossen werden.

Auch das war über die Jahrzehnte hinweg ein besonderes Merkmal der Bondfilme. Man konnte sie im Fernsehen einschalten und sich einfach unterhalten lassen, ohne andere Filme zu kennen. QUANTUM OF SOLACE war dann 2008 zum ersten Mal eine direkte Fortsetzung. SPECTRE versuchte sogar, den für sich stehenden SKYFALL mit dem Holzhammer in ein Kontinuitätsschema zu quetschen, und auch der finale Craigfilm ist wieder eine direkte Fortsetzung.

19) Bond macht als Charakter keine nennenswerte, eher für Dramen übliche Charakter-Entwicklung oder einen Lern- oder Reifeprozess (character arc) durch.

Eigentlich eine Konsequenz aus den Punkten 5 und 6, allerdings kann auch ein stilsicherer Profi-Agent eine Charakter-Entwicklung durchmachen, insofern ist es ein eigenständiger Punkt. 

Heutzutage ist es fast vergessen, oder sogar verpönt, dass die Protagonisten in einem Blockbuster nicht automatisch eine persönliche Transformation absolvieren müssen. Die Hindernisse, die sie im Verlauf der Handlung überwinden müssen, können aber rein äußerlicher und physischer Natur sein, und nicht unbedingt seelischer. So wie etwa Marty McFly in BACK TO THE FUTURE, Jean-Paul Belmondo, Bud Spencer und Terence Hill,  Arnold Schwarzenegger, Jackie Chan und viele, viele andere in den meisten ihrer Filme. Dem penetranten Predigen einflussreicher Drehbuch-Gurus in Hollywood ist es zu verdanken, dass mittlerweile jeder Actionfilm als verkappter Möchtegern-Shakespeare daher kommt.

20) Unterhaltung durch Action, Sex-Appeal und Exotik ist Hauptmotivation der Filme; Happy Ends sind die Regel.

Natürlich gab es in der langen Geschichte des Franchise Ausnahmen von dieser Regel, allem voran ON HER MAJESTY'S SECRET SERVICE von 1969. Ab LICENCE TO KILL nahmen gewisse Drama-Anteile zu, allerdings weit weniger überbordend wie mit den Craig-Filmen. 

Happy Ends waren mit der einzigen Ausnahme von ON HER MAJESTY'S SECRET SERVICE die absolute Regel, wobei man sagen muss, dass Bond auch bei Fleming nicht immer mit einem Schäferstündchen endet. In Moonraker zum Beispiel bekommt Bond von Gala Brand einen Korb. Während Cubby Broccoli vor allem die Motivation hatte, zeitlos unterhaltsame Filme zu schaffen, hatte Fleming durchaus höhere Ambitionen. Wenn auch bei weitem nicht so wie in den Craigfilmen dargestellt. 

21) Die Filme zeigen verschiedene Elemente, wie Tauch-, Ski- und Casino-Szenen, in einer gewissen Regelmäßigkeit.

Daniel Craig ist unter den Bonddarstellern mit mehr als einem Film (Connery, Moore, Dalton, Brosnan) der einzige, der nie mit Ausrüstung tauchte. Ski fuhr er ebenfalls nicht, im Gegensatz zu Moore und Brosnan (Lazenby könnte man hier noch zur Ära Connery rechnen). An dieser Stelle hatte ich mich schon einmal mit der verlorenen Tradition längerer Tauchgänge beschäftigt. Das ist kein Element, das so durchgenudelt ist, dass man als "mit der Zeit gehender" Fan da die Augen verdrehen muss. Bond kommt aus der Navi und taucht und schwimmt regelmäßig auch in seiner Freizeit. Es ist einfach Teil seiner Persönlichkeit, genauso wie das Spielen im Casino. Daher ist es ein so untrennbarer Bestandteil echter Bondfilme wie Pferde im Western. 

Auch andere Dinge wie zum Beispiel Laser in irgendeiner Form waren regelmäßige Bestandteile, deren Verschwinden in den Craigfilmen wohl DIE ANOTHER DAY zuzuschreiben ist.

22) Moneypenny und/oder Q haben obligatorische Auftritte in jedem Film.

Es gab eine einzige Ausnahmen mit LIVE AND LET DIE (1973), in dem Desmond Llewellyns Q nicht auftritt. Ansonsten waren Moneypenny und Q in jedem Film vertreten. Eine Tradition, die für CASINO ROYALE und QUANTUM OF SOLACE aufgegeben wurde, obwohl Miss Moneypenny im Roman Casino Royale erwähnt wird. (Als sie dann wieder eingeführt wurden, fiel man leider ins andere Extrem und machte sie teilweise zu Hauptcharakteren.)

23) Bond hat im Verlauf der Handlung mindestens einmal Sex mit der 'Leading Lady'.

Auch eine der Traditionen, bei denen man sich bis Craig wohl noch nicht einmal wirklich bewusst war, dass es eine Tradition ist. Mit Camille in QUANTUM OF SOLACE läuft es nur platonisch, bei SKYFALL ist die Leading Lady eigentlich M. Ob er auch mit Moneypenny im Bett landet wird offen gelassen. Und auch im letzten Film spielt sich das Liebesleben am Nordpol ab. No Sex please, we're British. Craig ist tatsächlich mehr Mönch als Hitman.

24) Die Filme nehmen nicht unbeteiligte Tote in großem Stil in Kauf.

Ein nicht ganz eindeutiger Punkt. Bei QUANTUM sieht man, wie eine unbeteiligte Frau während der Verfolgung zwischen Bond und Mitchell erschossen wird. Später im Film muss man annehmen, dass eine Kellnerin, die Medrano vergewaltigen wollte, im Hotel verbrennt. Bei SKYFALL sieht Bond zu, wie ein Pförtner erschossen wird. Später stürzt mindestens ein U-Bahnführer in den Tod. Bei SPECTRE stürzt ein komplettes Haus ein, wobei offen gelassen wird, ob es bis auf die beobachteten Personen leer stand. Allerdings kann man wohl davon ausgehen, dass inmitten einer Großstadt ein funktionstüchtiges und genutzes Haus nicht komplett leersteht. Und Bond nimmt durch seine Aktion ziemlich fahrlässig in Kauf, dass ein Hubschrauber auf einen von Menschenmassen belebten Platz stürzt. 

Es ist wie gesagt nicht so eindeutig, allerdings ist mein Eindruck, dass das Ableben unbeteiligter Passanten in früheren Filmen nicht so beiläufig behandelt wurde.

25) Wiederkehrende Charaktere wie Moneypenny, Q, M oder Felix Leiter sterben nicht, bzw. ihr Ableben wird nicht gezeigt.

Das Höchste der Gefühle war hier die Verstümmelung von Felix Leiter in LICENCE TO KILL (1989), der danach in der etablierten Zeitlininie auch nicht wieder auftauchte - etwas, das Bond im zweiten Roman Leben und sterben lassen wesentlich weniger emotional aufnimmt. In SKYFALL stirbt dagegen M, im letzten Film sogar Felix Leiter. Aber wenn man schon Bond über die Klippe springen lässt, kann man sich ja auch ein paar weitere Kollateralschäden leisten. Denn, hey: Wird ja eh alles rebootet.

26) Die Filme sind insgesamt konventionell gefilmt; Spielereien wie Zeitlupe, schnelle Schnitte, etc. werden nur sehr sparsam eingesetzt.

Diese konventionelle Machart ließ die Bondfilme der 1980er - trotz Actionszenen auf A-Level - im Vergleich zu Filmen Ende der 80er und Anfang der 90er, wie etwas von John Woo oder Luc Besson, etwas altbacken erscheinen. John Glen baute am Anfang von LICENCE TO KILL eine etwas pathetisch wirkende Zeitlupe ein, ansonsten entwickelten sich die Filme visuell nicht wirklich weiter. Martin Campbell spielte in GOLDENEYE dann auf erfrischende Weise mit Kamera-Perspektiven und Lichtsetzung, trotzdem blieben aber auch die Brosnan-Bondfilme auf einem relativ konservativen Niveau.

Die Ausnahme ist auch hier DIE ANOTHER DAY, mit in der Postproduktion eingefügtem, so genanntem Speed Ramping. Die Fangemeinde nahm das größtenteils negativ auf, wurde aber - ähnlich wie bei einem verlierenden Bond, der ernsthaft verletzt wird, einer an ihm zweifelnden M, Spielereien bei der Gunbarrel-Sequenz oder Extra-Zeit bei der Produktion - auf zukünftige Unwägbarkeiten in diesen Punkten vorbereitet.

CASINO ROYALE zeigte dann erstmals eine längere Sequenz in Schwarz-Weiß. Spätestens mit QUANTUM OF SOLACE mit seinen, von den beiden BOURNE-Sequels übernommenen Stakkato-Schnitt oder auch den künstlerisch verspielten Zwischentiteln war der Damm gebrochen. 

27) Die Filme werden von guten und erfahrenen Action-Handwerkern inszeniert und fotografiert, die eher die Gesamterscheinung des Franchise' respektieren als individuelle künstlerische Ambitionen durchzusetzen. 

Ein Punkt, der mit 26 in engem Zusammenhang steht, sich aber trotzdem nicht unbedingt automatisch daraus ergibt. Die Regisseure der Brosnan-Ära waren allesamt gute Auftragsregisseure. Mit Marc Forster kam 2008 dann erstmalig ein action-technisch eher unerfahrener und aus dem Arthouse-Bereich stammender Regisseur zum Einsatz, mit Sam Mendes dann sogar ein Oscar-Schwergewicht. Das Ersetzen etablierter Team-Mitglieder wie Komponisten, Titeldesigner, etc. nur auf Wunsch des Regisseurs, das es vorher in dem Ausmaß nicht gab, wurde von nun an auch gängige Praxis. Durch das Intermezzo mit Danny Boyle setzte man sogar Millionen von Dollar in den Sand und gefährdete die Produktion vollständig.


Abschließend kann man wohl sagen: Wenn es jemals so eine Art Serienbibel für die Bondreihe gegeben hat, die von Albert 'Cubby' Broccoli über die Jahre etabliert wurde, dann wurde sie von Barbara Broccoli und Michael G. Wilson so vollständig zerschossen wie die Bedienungsanleitung für den Vanquish in DIE ANOTHER DAY

Wie bereits gesagt, ist das Ziel der Aufzählung eher quantitativer als qualitativer Natur. Mit einem großen Teil der Aspekte hatte ich bis "Keine Zeit zu sterben" wenige Probleme. Einiges sehe ich erst im Rückblick anders. Vielleicht ist für den einen oder anderen Leser Anlass, über weitere Punkte nachzudenken, oder über die eigene Gewichtung verschiedener Aspekte für die Zukunft des Franchise.

4 Kommentare:




  1. Eine Anmerkung zu Position 26 betreffend:

    Schnitt-technisch galt ja gerade die Arbeit von Peter Hunt in den ersten Filmbeiträgen der Reihe als innovativ und schnell.
    In einem Podcast, in welchem ein Radiomoderator seinen Vater in Sachen Bond interviewte, stellte dieser klar, dass sich bei OHHMS seinerzeit im Kino bei ihm der Eindruck verfestigte, dass ein Teil der (zu) schnellen Schnitte bei Schlägereien (in Tracy Hotelzimmer etwa), saubere Übergänge kaschierten, weshalb er dies als schlampig empfang. Auch die lautstarken übertriebenen tonalen Einspieler vor Bonds Betreten in Dracos Arbeitszimmer sorgten bei ihm für Irritation, da dies seines Erachtens mehr zu den Prügelorgien der Spencer/Hill-Filme passe.
    Schnitt-technisch galt ja gerade die Arbeit von Peter Hunt in den ersten Filmbeiträgen der Reihe als innovativ und schnell.

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  2. Danke für den Kommentar. OHMSS ist tatsächlich in vielen Punkten eine große Ausnahme unter den Filmen bis 1989. Die schnellen Schnitte und andere Extravaganzen halten sich für die gesamte Dauer des Films aber doch in Grenzen, verglichen mit späteren Filmen. Ich habe es zumindest nie als schlampig oder übertrieben empfunden.

    Über den Begriff "konservativ" kann man sich bei den frühen Bondfilmen sicher streiten. Als konservativ sehe ich grundsätzlich alles filmhandwerkliche, das sich dem Film an sich und seinem Anliegen unterordnen, und nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Die Schnitteffekte in Die Another Day oder Quantum of Solace fallen für mich nicht darunter, weil sie den Zuschauer aktiv auf sich aufmerksam machen und damit aus der Handlung herausbringen.

    Grundsätzlich kann man aber den Mut von Peter Hunt und OHMSS nicht hoch genug schätzen. Ich sehe in den Craigfilmen nichts, was sich in puncto Innovation und Mut damit vergleichen lässt. Vor allem in Anbetracht der übrigen zeitgenössischen Filmlandschaft.

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  3. Die Kommentarfunktion bei Blogger ist übrigens ziemlich lästig. :( Über Opera ist es scheinbar gar nicht möglich.

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  4. Ich habe sehr mit dem Gedanken gespielt, einen 28. Punkt hinzuzufügen:

    Bond hat grundsätzlich eine positive Einstellung zum Leben an sich und zu seinem Beruf.

    Wäre er wirklich schon immer suizidal gewesen, wie manche NTTD-Fans argumentieren, hätte ihn Draco wohl kaum als Schwiegersohn für seine Tochter ausgewählt.

    Streiten kann man sich da allerdings sowohl beim Romanbond als auch dem Dalton-Bond. Beide zeigen durchaus gewisse Ermüdungs- und Distanzierungserscheinungen gegenüber ihrem Beruf. Nicht jedoch dem Leben an sich! Das ist etwas, was Bond künstlich und mit Gewalt aufgepfropft wurde.

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