Donnerstag, 9. Juni 2022

Agenten und Agenden

In seiner 1959 veröffentlichten Kurzgeschichte Quantum of Solace, die zum Titelgeber des 22. Eon-Bondfilms wurde, verließ Ian Fleming die typische Bondwelt und entwarf anhand der Liebesgeschichte zwischen einem Beamten und einer Stewardess eine Theorie über das Funktionieren von Beziehungen. Gemäß Fleming funktionieren sie so lange, wie sie beiden ein gewisses Minimum an Trost geben kann. Ist dieser Mindest-Schwellwert unterschritten, können sich Liebe und Zuneigung in Eiseskälte und sogar Hass verwandeln. 

Nun ist die Beziehung zwischen den Machern eines Franchises und dessen Fans der zwischen Mann und Frau gar nicht so unähnlich. Immerhin setzt schon der Begriff Fan eine über das Normale hinausgehende Leidenschaft voraus. Wie der schüchterne Beamte Philip Masters in Flemings Kurzgeschichte ist auch der durchschnittliche Fan durchaus bereit, viele Kapriolen des Objektes seiner Leidenschaft hinzunehmen und ihm trotzdem die Treue zu halten. Erst wenn gewisse ungeschriebene Verträge von einer Seite aufgekündigt werden und das 'Quantum an Trost' unterschritten wird, findet die Fantreue ihr Ende. Keine Zeit zu sterben hat das bei zahlreichen Fans nach fast 60 Jahren und 24 Filmen geschafft. Aber auch andere langjährige Franchises wie Star Trek oder Star Wars scheinen in jüngerer Zeit das finale Quantum Trost verletzt zu haben. Doch worin liegt das genau? Macher und Fans - Versuch einer Paartherapie in drei Teilen.



Die Zeichen an der (Lein-)Wand

Um das zu verstehen ist es vielleicht ganz interessant, einen Blick darauf zu werfen, welche Bedeutung Bondfilme für Zuschauer und Fans überhaupt haben. Und dafür wiederum lohnt sich ein Ausflug in den Bereich der Semiotik, der Lehre von den Zeichen und ihren Bedeutungen. Hier unterscheidet man zwischen Denotation und Konnotation. Ersteres bezeichnet die reine und ursprüngliche Bedeutung eines Wortes, eines Zeichens oder allgemein einer bestimmten Sache, zweiteres die sekundären, mit dieser Sache mitschwingenden Neben-Bedeutungen. Bezeichnet "Hase" beispielsweise in erster Linie das Tier, können als Bedeutungen auch der Kosename oder Synonyme für Ängstlichkeit oder Unwissenheit übermittelt werden. Wer A sagt, sagt also gleichzeitig immer auch B, C oder das halbe Alphabet. Gerade im künstlerischen Bereich ist das Spiel mit Konnotationen existentiell, um einen guten Subtext zu erzeugen und einem Kunstwerk Bedeutung zu verleihen.

Im Bereich der Spielfilme sind in den letzten Jahren überraschende Wendungen immer populärer geworden. Obwohl sie schon seit frühester Stummfilmzeit zur Dramaturgie gehören, besteht ungefähr seit der Jahrtausendwende und Filmen wie THE SIXTH SENSE, THE USUAL SUSPECTS, MEMENTO oder FIGHT CLUB ein verstärktes Zuschauerinteresse an kunstvoll konstruierten Wendungen, vor allem weil sie der Handlung meistens kurz vor Ende plötzlich eine völlig unerwartete Konnotation hinzufügen. Es ist, als hätte man eineinhalb Stunden auf ein Bild gestarrrt, um dann plötzlich noch etwas völlig anderes darin zu sehen. Ein Effekt, der Mind Game (den alternativen und primitiveren Begriff möchte ich hier vermeiden) genannt wird.

Im besten Fall erlebt man eine sehr angenehme intellektuelle Stimulation und hat das Bedürfnis, den gesamten Film mit dem Wissen dieser neuen Bedeutungsebene noch einmal zu sehen. Leider scheinen viele Hollywood-Produzenten den Wert von überraschenden Wendungen aber allein darin zu sehen, wie unerwartet sie sind, und nicht, ob sie dem Film tatsächlich eine neue Bedeutungsebene verleihen.

Im ungünstigsten Fall ist eine Wendung aber nicht nur nicht konnotierend, sondern sogar detonierend. Sie fügt also keine nennenswerte Deutungsebene hinzu, sondern nimmt im Gegenteil eine, die bis dahin vorhanden war, weg. Als Beispiel fällt mir da JURASSIC PARK III ein. Irgendwann im Film, nachdem die Protagonisten auf eine der berüchtigten Saurierinseln gelotst wurden, erfährt der Zuschauer, dass die Eheleute, die ihren Sohn dort suchen, gar keine obskuren Millionäre sind, die vielleicht sogar Verstrickungen mit Park-Gründer John Hammond oder ähnliches haben, sondern stinknormale Leute. Rein formal eine unerwartete Wendung, aber keine, die für den Film und den Zuschauer arbeitet, sondern eher gegen sie. Es ist wie wenn ein Zauberer mit beschwörenden Worten sagt: "Konzentrieren sie sich auf diese Münze", und dann, nachdem der Zuschauer das tut, plötzlich lacht und meint: "Ist nur eine Münze, eh!".

Keine Zeit zu sterben lieferte nun das absolute Musterbeispiel einer denotierenden Wendung. Vom reinen Ausmaß der Überraschung her mag sie sicher in die Filmgeschichte eingehen, neben wundervoll konnotierenden Wendungen wie der von THE EMPIRE STRIKES BACK oder PLANET OF THE APES. Wobei konnotierend hier keineswegs heißen muss, dass eine gute Wendung nicht auch ernüchternd sein kann! Im Gegenteil, die besten Wendungen der Filmgeschichte, wie etwa die von SOYLENT GREEN oder CHINATOWN, sind geballte Schläge in die Magengrube.

Dabei sind es gleich mehrere Bedeutungsebenen der Figur James Bond, die hier ignoriert werden.

Für England, James?

James Bond ist vor fast siebzig Jahren einmal als eine schlichte Romanfigur ins Dasein gekommen, die von US-amerikanischen Hardboiled-Krimis inspiriert wurde, und tatsächlich vergleichsweise menschlich und verletztlich angelegt war. Über die Jahrzehnte hat diese Figur eines britischen Geheimagenten in einer eher harten und wenig ironischen Welt aber immer mehr Ebenen von zusätzlicher Bedeutung angenommen, ist sozusagen wie ein rollender Schneeball immer größer und vielschichtiger geworden.

Dabei ist wichtig zu betonen, dass diese Konnotionen nicht nur vom Publikum ausgingen, sondern oft von den Produzenten explizit beschworen wurden, meist zur Aufwertung der Marke 007. Ein Beispiel ist THE SPY WHO LOVED ME (Der Spion, der mich liebte) von 1977, der nach dem schwächelnden THE MAN WITH THE GOLDEN GUN und dem Ausstieg von Mit-Produzent Harry Saltzman zwar ironisch, aber trotzdem offensiv die Figur des James Bond 007 mit dem britischen Nationalgefühl verband. Etwa durch den brillanten Einfall, den rettenden Fallschirm am Ende der Vortitelsequenz als Union-Jack-Flagge zu gestalten. Aber auch durch Dialogzeilen wie "Aber ich brauche dich, James!" - "England auch", oder das nur im Original zum Tragen kommende "Keeping the British end up". Die Botschaft ist klar: Das Überleben von James Bond sowohl als Figur wie als Franchise ist von nationalem Interesse.

Bond wurde im Lauf der Zeit auch immer wichtiger als Gallionsfigur der britischen, aber auch allgemein der europäischen Filmindustrie im Konkurrenzkampf mit Hollywood, das einheimische Produktionen zu verdrängen versucht. Nachdem die Bondfilme der 1980er beispielsweise einen stetigen Zuschauerschwund zugunsten neu auftauchender US-Franchises erlitten, war der Werbeslogan für GOLDENEYE 1995 - No Limits! No Fears! No Substitues! - nicht nur rein auf die Filmhandlung um Rivalen 006 bezogen, sondern vor allem auf die Konkurrenz aus Übersee. Auch hier die Message: Bonds Überleben ist nicht nur für die britische Volksseele essentiell, sondern auch für den nationalen und europäischen Film. Wobei ironischerweise die Identifikation mit Großbritannien innerhalb der Handlung etwas gelockert wird, wenn Bond auf Trevelyans Frage, ob er ihn für England töte, antwortet: "Nein, für mich!".

Die Inszenierung von James Bond als nationale Instanz, die die Queen zur Eröffnung der Olympischen Spiele 2012 abholt und an einem zwinkernden Churchill vorbeifliegt, könnte man hier als Höhepunkt dieser Konnotierung weit über profane Filmhandlungen hinaus sehen.

War 1977 und noch mehr 1995 Bonds Rückkehr ein positives Signal für das Franchise und die britische Filmindustrie, wurde Bond mit Keine Zeit zu sterben 2021 sogar zu dem Hoffnungsträger des Kinos an sich. Eine historisch einmalige Chance, die Umstände in und außerhalb des Films emotional prägend zu synchronisieren, wurde hier auf eine fast schon bizarre Weise verschenkt, wenn Bond am Ende mit fliegenden Fahnen an einem Virus scheitert.

Aber es gibt noch eine weitere Meta-Ebene der Bedeutung von 007, die Keine Zeit zu sterben in geradezu desaströser Weise negiert und die bisher kaum thematisiert wurde, und auf die ich im zweiten Teil dieser Analyse eingehen möchte.

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